Missbrauchsaufsicht
Marktbeherrschende Stellung
Vertriebshändler
Vertriebsverträge
Urteil: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=CELEX:62020CJ0680
Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat mit Urteil vom 19. Januar 2023 in einem Vorabentscheidungsverfahren in der Rechtssache C‑680/20 Unilever Italia gegen die italienische Wettbewerbsbehörde Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato (AGCM) eine weichenstellende Entscheidung getroffen. Der Gerichtshof erweiterte damit die Zurechnung und Haftung marktbeherrschender Unternehmen für das missbräuchliche Handeln selbständiger Vertriebshändler. Der Missbrauch einer beherrschenden Stellung kann demnach auch durch Ausschließlichkeitsklauseln in Vertriebsverträgen, die Verdrängungswirkungen am Markt entfalten können, erfolgen.
Hintergrund:
Die italienische Wettbewerbsbehörde verhängte 2017 gegen den Konzern Unilever ein Bußgeld (ca. 60 Mio. EUR) wegen Missbrauchs seiner beherrschenden Stellung auf dem italienischen Markt für den Vertrieb von Speiseeis in Einzelpackungen an bestimmte Verkaufsstellen, wie Badeanstalten und Bars. Unilever klagte gegen diese Entscheidung.
Der AGCM zufolge habe Unilever eine missbräuchliche Verdrängungsstrategie verfolgt, indem den Betreibern der Verkaufsstellen durch die Vertriebshändler von Unilever Ausschließlichkeitsklauseln auferlegt worden seien, die sie dazu verpflichtet hätten, ihren gesamten Bedarf an abgepacktem Speiseeis ausschließlich von Unilever zu beziehen. Tatsächlich ist das missbräuchliche Tatverhalten nicht von Unilever, sondern von ihren eigenständigen Vertriebshändlern begangen worden (unstreitig). Zu klären war aus Sicht der AGCM, ob das Verhalten der Vertriebshändler allein Unilever zugerechnet werden konnte, weil Unilever und ihre Vertriebshändler eine wirtschaftliche Einheit bildeten (so die Ansicht von AGCM). Begründet wurde diese Ansicht damit, dass Unilever zu einem gewissen Grad in die Geschäftspolitik der Vertriebshändler eingegriffen habe, so dass diese nicht eigenständig gehandelt hätten, als sie den Betreibern der Verkaufsstellen Ausschließlichkeitsklauseln auferlegt hätten.
Der mit der Berufung befasste italienische Staatsrat rief den EuGH zur Auslegung des EU-Wettbewerbsrechts an. Die erste Vorlagefrage lautete:
Welche Kriterien sind abgesehen von Fällen der Unternehmenskontrolle für die Feststellung maßgeblich, ob die vertragliche Koordinierung zwischen formal autonomen und unabhängigen Wirtschaftsteilnehmern zu einer einzigen wirtschaftlichen Einheit im Sinne der Art. 101 und 102 AEUV führt? Kann insbesondere das Vorhandensein eines gewissen Grades von Eingriffen in die geschäftlichen Entscheidungen eines anderen Unternehmens, das für Beziehungen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Herstellern und Abnehmern typisch ist, als ausreichend angesehen werden, um diese Unternehmen als Teil derselben wirtschaftlichen Einheit einzustufen? Oder muss zwischen den beiden Unternehmen eine „hierarchische“ Verbindung bestehen, die durch das Vorliegen eines Vertrags erkennbar wird, wonach sich mehrere autonome Unternehmen der Leitungs- und Koordinierungstätigkeit eines von ihnen „unterwerfen“, so dass die Behörde den Nachweis für eine systematische und kontinuierliche Reihe von Anleitungsmaßnahmen erbringen muss, die geeignet sind, die betrieblichen Entscheidungen des Unternehmens zu beeinflussen, d. h. die strategischen und operativen Entscheidungen in finanzieller und gewerblicher Hinsicht?
Der EuGH hat diese Frage nur in Bezug auf Art. 102 AEUV und nicht in Bezug auf Art. 101 AEUV und jedenfalls im Ergebnis im Sinne der AGCM beantwortet:
Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 102 AEUV dahin auszulegen ist, dass das Verhalten von Vertriebshändlern, die Teil des Vertriebsnetzes für Waren oder Dienstleistungen eines Herstellers in beherrschender Stellung sind, diesem zugerechnet werden können, wenn feststeht, dass dieses Verhalten von den Vertriebshändlern nicht selbständig angenommen wurde, sondern Teil einer einseitig von diesem Hersteller beschlossenen und mittels dieser Vertriebshändler umgesetzten Politik ist.
Diese Entscheidung manifestiert nur für Art. 102 AEUV eine Erweiterung der Zurechnungsverantwortung marktbeherrschender Unternehmen dar. Der EuGH stützt sich in seiner Argumentation nicht auf die wirtschaftliche Einheit und damit auf den Unternehmensbegriff, wie sie in der Vorlagefrage angesprochen wird. Es stellt lediglich fest, dass die Handlungen der Vertriebshändler Unilever zugerechnet werden können, wenn die Handlungen „nicht selbständig“ von diesen Vertriebshändlern beschlossen wurden, sondern Teil einer Politik seien, die einseitig von diesem Hersteller beschlossen und über diese Vertriebshändler umgesetzt werde. Nach dieser Lesart fungieren die Vertriebshändler lediglich als Instrument des marktbeherrschenden Herstellers. Dies gelte insbesondere dann, wenn ein solches Verhalten die Form von Standardverträgen annimmt, „die vollständig von einem Hersteller in beherrschender Stellung abgefasst worden sind und zugunsten seiner Produkte Ausschließlichkeitsklauseln enthalten, die die Vertriebshändler dieses Herstellers von den Betreibern der Verkaufsstellen unterzeichnen lassen müssen, ohne sie ändern zu können, es sei denn mit ausdrücklicher Zustimmung dieses Herstellers.“
Mittels einer zweiten Vorlagefrage entschied der Gerichtshof noch, dass die Wettbewerbsbehörde zwar nicht notwendigerweise beweisen müsse, dass ein missbräuchliches Verhalten tatsächlich wettbewerbswidrige Wirkungen erzeugt habe. Allerdings müsse sie nachweisen, dass das Verhalten unter den Umständen des konkreten Falls in der Lage war, den Leistungswettbewerb zu beschränken, und dürfe dafür dieser Annahme entgegenstehende Beweise und Rechtfertigungsgründe des beherrschenden Unternehmens nicht unberücksichtigt lassen.