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EUGH
Vorabentscheidungsersuchen
Unternehmensbegriff
Kartellschadensrecht
Bußgeldverfahren
ECN+

Vorabentscheidungsersuchen:

https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=CELEX:62017CN0724&from=EN

Am 5. März 2018 ist im Amtsblatt der Europäischen Union ein Vorabentscheidungsersuchen eines finnischen Gerichts veröffentlicht worden. Das oberste Gericht Finnlands, Korkein oikeus, hat dem EuGH am 22. Dezember 2017 ein Vorabentscheidungsersuchen vorgelegt, über das noch nicht entschieden worden ist. In diesem will der Korkein oikeus klären lassen, ob der unionsrechtliche Unternehmensbegriffs im Bußgeldverfahren auch auf das Kartellschadensersatzrecht zu übertragen ist und inwieweit er dieser auf nationales Recht durchschlägt.  

„Unternehmensbegriff“

Der unionsrechtliche Unternehmensbegriff ist auf europäischer Ebene  in ständiger Rechtsprechung definiert. Danach ist ein Unternehmen „jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung.“ Wesentliche Bedeutung entfaltet er bisher im Kartellhaftungsrecht bei Bußgeldern. So ist die Haftung für Bußgelder, die wegen eines Verstoßes gegen Art. 101 AEUV ausgestellt wurden, nicht lediglich auf das konkret verantwortliche Unternehmen beschränkt, wenn dieses Teil einer größeren wirtschaftlichen Einheit ist. Im Ergebnis führt der unionsrechtliche Unternehmensbegriff zu einer verschuldensunabhängigen Konzernverbundhaftung, wie sie der deutsche Gesetzgeber mit der 9. GWB-Novelle in nationales Recht eingeführt hat. Die europäische Praxis wird von weiten Kreisen in der Literatur allerdings als nicht rechtskonform erachtet. Es wird kritisiert, dass jene gegen rechtsstaatliche Grundsätze wie den Gesetzesvorbehalt, den Schuldgrundsatz und die Unschuldsvermutung verstößt.

Inhalt des Vorabentscheidungsersuchen

Der Korkein oikeus will zunächst vom Gericht wissen, ob bei der Frage, wer für den Schaden aus einem gegen den Art. 101 AEUV verstoßenden Verhalten haftet, nationales Kartellrecht oder aber der Art. 101 AEUV direkt einschlägig ist. Für den Fall, dass die europäische Richtlinie direkt angewendet wird, fragt das finnische Gericht, ob der Unternehmensbegriff aus dem Bußgeldverfahren und dessen Grundsätze auf die Schadensersatzpflicht übertragen werden.

Für das gegenteilige Szenario, in dem nationales Recht statthaft ist, möchte der Korkein oikeus wissen, ob ein engerer nationaler Unternehmensbegriff bei der Schadensersatzhaftung gegen das Effektivitätserfordernis des Unionsrechts verstößt. Konkret wird gefragt:

  • Verstößt es gegen das Effizienzgebot der europäischen Union, wenn nach der Auflösung des verantwortlichen Unternehmens der rechtliche Nachfolger nicht für den entstandenen Schaden haftet? 

  • Verstößt es auch gegen das Effektivitätsverbot, wenn der Rechtsnachfolgers nach nationalen Recht nur dann haftet, wenn die Unternehmensumwandlung gesetzeswidrig, zum Zwecke der Umgehung der wettbewerbsrechtlichen Schadensersatzpflicht, in unlauterer Weise oder zumindest in Kenntnis bzw. fahrlässiger Unkenntnis von dem Wettbewerbsverstoß erfolgt ist?

Verstößt es gegen das Effizienzgebot der europäischen Union, wenn nach der Auflösung des verantwortlichen Unternehmens der rechtliche Nachfolger nicht für den entstandenen Schaden haftet? 

Verstößt es auch gegen das Effektivitätsverbot, wenn der Rechtsnachfolgers nach nationalen Recht nur dann haftet, wenn die Unternehmensumwandlung gesetzeswidrig, zum Zwecke der Umgehung der wettbewerbsrechtlichen Schadensersatzpflicht, in unlauterer Weise oder zumindest in Kenntnis bzw. fahrlässiger Unkenntnis von dem Wettbewerbsverstoß erfolgt ist?

Insofern muss der EuGH unabhängig davon, ob nun der Art. 101 AEUV direkt oder eben nationales Recht angewendet wird, die Frage beantworten, inwieweit der unionsrechtliche Unternehmensbegriff auf das nationale Kartellschadensersatzrecht durchschlägt.

Debatte in Deutschland

Auch in Deutschland gab es im Zuge der Einführung der 9. GWB Novelle eine Kontroverse zur Einführung des europäischen Unternehmensbegriffs auf Bußgeldverfahren im deutschen Kartellrecht. In Anlehnung an den europäischen Unternehmensbegriff haftet nach
§ 81 GWB nicht nur das handelnde Unternehmen sondern auch verschuldensunabhängig der Mutterkonzern für Verstöße gegen Art. 101 AEUV. Zuvor waren dem Kartellamt im Fall des Wurstkartells 238 Millionen Euro an Bußgeldern durch gezielte Umstrukturierungen entgangen.

Von den Kritikern dieser Regelung wurde geltend gemacht, dass die Gesetzesregelungen zur Konzernhaftung weit über das Schließen der sogenannten „Wurstlücke“ hinausgegangen seien. Die Konzernhaftung sei dafür gar nicht benötigt worden, da Defizite allein auf der Rechtsnachfolgeseite aufgetreten seien. Die Einführung einer verschuldensunabhängigen Konzernhaftung im Bußgeldrecht verstößt nach einigen Stimmen in der Literatur gegen den Schuldgrundsatz, dem als Ausformung des Rechtsstaatsprinzips Verfassungsrang zukommt.

Offen – auch in Deutschland – ist nach wie vor die Frage, ob der unionsrechtliche Unternehmensbegriffs auch für das Kartellschadensersatzrecht Geltung beanspruchen kann. Der deutsche Gesetzgeber hatte von einer Angleichung für das Zivilrecht bislang Abstand genommen. Insofern ist das Ergebnis des Vorabentscheidungsgesuchs auch für Deutschland interessant.

ECN-Richtlinie

Inzwischen hat die EU geklärt, ob der unionsrechtliche Unternehmensbegriff im nationalen Kartellbußgeldverfahren Anwendung findet: Ende Mai 2018 einigten sich das Europäische Parlament, die Europäische Kommission und die bulgarische EU-Ratspräsidentschaft in den ECN+-Richtlinien, dass künftig in allen Mitgliedstaaten der europäische Unternehmensbegriff und damit die obligatorischen Einführung einer verschuldensunabhängigen Konzernverbundhaftung gelten soll (vgl. FIW-Artikel vom 29.06.2018). Nach der offiziellen Annahme haben die Mitgliedstaaten zwei Jahre Zeit, um die Vorgaben in nationales Recht umzusetzen.

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